
Von Armen, Alten und Ungebildeten
Das Referendum ist noch keine 24 Stunden alt, da zeigen sich Politik und etablierte Medien wieder einmal als schlechte Verlierer. Verlierer, die nicht wahrhaben wollen, dass Britannien sich für den Brexit entschieden hat. Dass ein Volk befragt worden ist und daraufhin eine demokratische Entscheidung getroffen hat, spielt da wohl eher eine untergeordnete Rolle.
Dabei hatte man nicht wirklich mit diesem Ergebnis gerechnet. Klar, es ist blöd, wenn beim Fußball der Gegentreffer buchstäblich in der letzten Sekunde fällt – auch wenn man bis zuletzt sicher war, das Spiel gewinnen zu können. Vielleicht war man sogar das bessere Team. Aber Tor ist nun mal Tor – oder etwa nicht?
Die Katerstimmung in Brüssel mag man verstehen. Dort wird Cameron reflexartig gescholten. Er soll gefälligst schnell machen, keine Zeit verlieren – und tschüss. Kein Wunder, dass Brüssel „not amused“ ist. Aber die Medienvertreter? Was haben die denn daran zu mäkeln? Offenbar können sich einige von ihnen noch weniger mit dem Ergebnis arrangieren als die EU-Bosse. Es hat den Anschein, als verlöre die schreibende Zunft ganz nebenbei ihre Unabhängigkeit. Nehmen wir als Beispiel mal den Kurier in Österreich. Der titelt sogleich:
Brexit – Alte bestimmen die Zukunft der Jungen.
Das Blatt findet “tiefe Gräben”, die von Alten gezogen werden. Weiter heißt es:
Auf der einen Seite stehen die jungen, gebildeten, wohlhabenderen Bürger; auf der anderen Seite ältere, weniger gebildete, ärmere Bevölkerungsgruppen.“
Das mag stimmen – hört sich aber für mich so an, als wenn derjenige, der gegen einen Verbleib Englands in der EU ist, alt, arm und ungebildet ist. Was bedeutet das? Nun, wenn die Interpretation stimmt, dann hat EU-England es nach vielen Jahren seiner Mitgliedschaft im Staatenbündnis tatsächlich geschafft, mehr als 50 % seiner Bevölkerung ungebildet altern und nebenbei noch verarmen zu lassen. Wie konnte das passieren. Und warum wird das so deutlich nach außen gekehrt? Haben schlechter gestellte Menschen vielleicht weniger Recht, ihre Stimme abzugeben? Warum soll deren Votum weniger wert sein als das der Eliten?
Analysen des Wahlergebnisses sind vollkommen in Ordnung – aber bitte keine Wertung! Hätte man sachlicher analysiert, wäre nämlich aufgefallen, dass die „gesellschaftlich wohl Genährten“ mehrheitlich gar nicht zur Urne gegangen sind – die „unzufriedenen Dummen“ hingegen schon. Nun kann man über die Unzufriedenen herfallen. Besser wäre aber gewesen, man hätte versucht, die Ursachen für die Unzufriedenheit zu ergründen. Wie konnte es in einem wohlgenährten EU-Land so weit kommen, dass so viele Menschen unzufrieden sind – und sich am Ende sogar nach einer Unabhängigkeit von der EU sehnen?
Und was heißt „tiefe Gräben“, die angeblich vom Wahlvolk gerissen werden: Das Wahlvolk hatte einen konkreten Auftrag. Es sollte eine Entscheidung treffen – nichts weiter. Es hat gemacht, was man von ihm verlangt hat – und jetzt ist gut. Wenn ihr, liebe Medienvertreter, das nicht wahrhaben wollt, dann ist das euer Problem. Aber lasst diese tumben Verbal-Ejakulationen! Es ist nicht gerade die feine englische Art, den Wähler zu bewerten, ihn schlecht zu reden, nur weil er möglicherweise den Interessen Einiger im Wege steht! Macht eure journalistische Arbeit oder lasst es bleiben – aber bewertet nicht ständig!
Denn mit bewertenden Beiträgen zieht am Ende “ihr” tiefe Gräben durch die Gesellschaft. Ein demokratisches Europa braucht unabhängigen Journalismus – kein redaktionelles Herumgezicke!